Пьесы

RUSSIAN BOY (German version)

RUSSIAN BOY

Dmitry Sokolov
Aus dem Russischen von Elina Finkel

Personen:

Artjom, ein junger Mann gerade Anfang 20 Mischa, etwa Mitte 30
Lena, Mischas Frau, etwas jünger als er Ljudmilla Iwanowna, Artjoms Mutter, um die 50

Weitere Personen: Artjoms Zukünftiger Vater, Junger Mann mit weißblondem Haar, Großmütterchen, Zwillinge, Mutter der Zwillinge, Mischas Vater, Bodybilder, Berühmter Fernsehproduzent, Der Typ, Irgendein Typ, Betrunkener Typ, Saunabesitzer, Junge Frau.

1.

Artjom liegt blutend auf dem Boden. Das scheint eine Zukunftsvision zu sein.

LJUDMILLA IWANOWNA

Es gibt so einen Volksglauben… wenn man ein Kind will… dann muss man jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe nackt durch den Morgentau laufen… Das habe ich den ganzen August über gemacht, wie ich im Sommer bei meiner Mutter auf dem Dorf war… und so hab ich ihn kennengelernt… er war bei den Nachbarn zu Besuch…. später haben alle immer gefragt – „wer ist denn der Vater? Jetzt sag doch mal!“ Ich hab nie was gesagt… Ich wollte das Kind, das war klar… alles andere war unwichtig…

Ein Feld. Ljudmila Iwanowna läuft nackt durchs Feld und schreit Beschwörungsformeln.

LJUDMILLA IWANOWNA

Allmächtiger Gott! Allmächtiger Gott! Der du den Menschen die Sonne und den Mond, unzählige Sterne und leichtfüßige Wolken und die ganze Fülle des Lebens geschenkt hast, so schenk auch mir, Deiner Sklavin Ludmilla Deine Gnade, und lass mich ein Kind empfangen.

Artjoms Zukünftiger Vater beobachtet sie vom Nachbargrundstück. Sie bemerkt ihn nicht. 

ZUKÜNFTIGER VATER

Na, schönen guten Tag auch, Gottes Sklavin Ludmilla.

Ljudmilla bedeckt schamhaft ihre Blöße und wird rot.

LJUDMILLA IWANOWNA

Mein Gott! Das muss man sich mal vorstellen! Da laufe ich nackt durch die Felder, völlig durchgefroren, die Zähne klappern vor Kälte, Gänsehaut so dick wie Pusteln, und schrei wie eine Bekloppte den Herrgott an. Und das jeden Morgen. Meine Mutter hat mich immer dann sofort ins Bett gesteckt und mir stundenlang heißen Tee mit Zitrone eingeflösst… Aber — so bin ich dann schwanger geworden! Da soll noch mal einer die Volksmedizin anzweifeln. (lacht)

Ein Feld. Ljudmila Iwanowna läuft nackt durchs Feld und schreit Beschwörungsformeln.

LJUDMILLA IWANOWNA

Allmächtiger Gott! Allmächtiger Gott! Der du den Menschen die Sonne und den Mond, unzählige Sterne und leichtfüßige Wolken und die ganze Fülle des Lebens geschenkt hast, so schenk auch mir, Deiner Sklavin Ludmilla Deine Gnade, und lass mich ein Kind empfangen!

Artjoms Zukünftiger Vater beobachtet sie vom Nachbargrundstück, plötzlich ebenfalls nackt,

ZUKÜNFTIGER VATER

Na, schönen guten Tag auch, Gottes Sklavin Ludmilla.

Ljudmilla bedeckt kokett ihre Blöße.

LJUDMILLA IWANOWNA

Er wollte das Kind nicht. Er war ja verheiratet… Hat mir Geld für die Abtreibung gegeben… hat gesagt, sollte ich das Kind kriegen, macht er mir das Leben zur Hölle… „ich

will weder dich sehen, noch das Kind…„ Sein Schwiegervater war ja irgendein ein hohes Tier bei der Stadt… ich bin dann hierher gezogen, zu meiner Mutter aufs Dorf…

Ein Feld. Ljudmila Iwanowna, mittlerweile sehr erschöpft, läuft nackt durchs Feld und schreit Beschwörungsformeln.

LJUDMILLA IWANOWNA

Allmächtiger Gott! Allmächtiger Gott! Der du den Menschen die Sonne und den Mond, unzählige Sterne und leichtfüßige Wolken und die ganze Fülle des Lebens geschenkt hast, so schenk auch mir, Deiner Sklavin Ludmilla Deine Gnade, und lass mich ein Kind empfangen!

Artjoms Zukünftiger Vater beobachtet sie schlecht gelaunt vom Nachbargrundstück. ZUKÜNFTIGER VATER

Jetzt ist aber mal gut, Gottes Sklavin Ljudmilla.

Ljudmilla Iwanowna hat jegliche Scham verloren und bedeckt nichts mehr.

LJUDMILLA IWANOWNA

So war das… mein Morgentaukind… man liebt es, man erzieht es, man wünscht ihm dass es glücklich wird und gesund bleibt… (sie holt eine Schüssel mit Wasser und einen Waschlappen und wäscht Artjom das Blut vom Gesicht)

2.

ARTJOM

‚Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Er hat den Knaben wohl in dem Arm, er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.’Der Erlkönig. Das habe ich in Moskau bei der Schauspielprüfung vorgesprochen. Aber aus der Sicht des Pferdes. Also als Pferd. Dass fast zu Tode geritten wird. Der Vater ‚erreicht den Hof mit Müh und Not…’ Ich habe wochenlang Pferde beobachtet bei uns auf dem Dorf und dann die Ballade aus der Sicht des Pferdes vorgetragen, mit allem was dazu gehört, also wiehern, Mähne schütteln, ausschlagen… Ich wollte mal was anderes machen. Sie waren irritiert, aber – ich hab bestanden.

LJUDMILLA IWANOWNA

Mama, ich werde Schauspieler!“ Was für ein Quatsch! Ich meine, er hat schon als Kind gerne getanzt und gesungen. Einmal war bei uns ein Fest im Dorf, und wir sind hin, da lebte meine Mutter noch, also war er da drei oder vier. Da war eine Volkstanzgruppe, mit einem Akkordeonspieler… und Artjom wollte unbedingt zu denen auf die Bühne, hat geheult, geschrien, bis wir ihn gelassen haben… da hat er vielleicht losgelegt… war nicht mehr wegzukriegen… hat getanzt und gesungen… alle haben geklatscht, gejohlt… die waren ganz begeistert – „zu wem gehört denn der Kleine?“ haben die gefragt, „Zu uns“ hab ich gesagt… „der hat Talent“ haben die gesagt „der soll zu uns in die Gruppe kommen, da kann er lernen“ Er hat dann jahrelang Akkordeonspielen gelernt… Viermal in der Woche, nach meiner Arbeit musste ich ihn immer hinbringen… ich bin dauernd hin und her gewetzt… Und teuer wars! Und wofür? Wie er dann dreizehn, vierzehn war, hatte er keine Lust mehr… Und jetzt Schauspieler! „Nach Moskau!“ ja, da haben sie ja nur auf ihn gewartet, was?! Schauspieler… Und ich? Was mach ich hier alleine?

ARTJOM

Die Schauspielschule geht mir auf die Nerven. Diese Typen da alle. Da kann ja keiner normal gehen, alle gehen sie durch die Gänge als wären sie sonst wer, oder sie singen dabei, oder tanzen, so nach dem Motto .seht her, ich bin Künstler. Angezogen sind sie wie die letzten Penner, aber nicht aus Not, die meisten Eltern haben Geld wie Asche, sonder so als Style… Ich hasse das. Ich habe dann beschlossen, meinen eigenen Style zu entwickeln. Ich habe meine Mutter gebeten, mir eine Strickweste zu machen. Dann noch eine. Noch eine. Jetzt habe ich schon sieben Strickwesten. Das ist sozusagen mein Markenzeichen. Egal was ich trage, darüber kommt immer eine Strickweste. Ich meine, ich hab nicht viel Zeug, aber das ist dann cool, immer mit `ner Weste drüber… Die müffeln auch alle, waschen sich nicht… Das hasse ich auch… Und ich hasse dicke Menschen. Und Raucher. Überhaupt Menschen, die nicht auf sich acht geben.
Heutzutage ist es doch kein Problem, sich gesund zu ernähren und gut auszusehen. Man muss nicht mal in teure Fitnessstudios rennen. Ich zum Beispiel mach jeden Tag zu Hause situps, Liegestützen und so, das reicht vollkommen. Untergekommen bin ich bei Verwandten von Verwandten von Verwandten. Die sind im Sommer auf die Datsche, und ich hüte die Wohnung. Und warte auf ein Zimmer im Wohnheim der Hochschule. In der Wohnung der Verwandten von Verwandten von Verwandten gibt’s kein warmes Wasser, aber das ist wohl öfter so in Moskau im Sommer. Ich bleibe den Sommer über trotzdem hier – ich will versuchen, ob ich nicht in die Auswahl zu „Voice of Russia“ komme… Das ist mein Traum! Und heiß duschen kann ich auch auf der Arbeit… Wie ich her bin, da habe ich mir sofort einen Job gesucht. Ich arbeite von Abends acht bis morgens. In einer Sauna.

Sauna. Vor der Kasse eine Schlange. An der Kasse hinter der Scheibe Artjom.

ARTJOM

Es ist wie eine ganz normale Sauna, aber für Gays. Für alle anderen ist der Zutritt eigentlich verboten, aber eigentlich…

Junger Mann mit weißblondem Haar klopft an die Scheibe.

ARTJOM

Siebenhundert.

Junger Mann mit weißblondem Haar zahlt und geht rein. Als nächstes kommt Großmütterchen.

ARTJOM

Großmütterchen, Sie wissen aber schon, dass das eine Gay Sauna ist?

GROßMÜTTERCHEN

Natürlich, mein Lieber. (wühlt in ihrer Tasche) Wo hab ich bloß meinen Rentnerausweis. ARTJOM

Wir haben hier sowieso keine Ermäßigung. Siebenhundert Rubel.

GROßMÜTTERCHEN

Na gut, na gut mein Lieber.

Das Großmütterchen zahlt und geht rein. Die nächsten in der Schlange sind die Zwillinge und ihre Mutter.

ARTJOM

Junge Frau, wo wollen Sie denn hin?

MUTTER DER ZWILLINGE (zeigt auf die Kinder)
Was denn? Die beiden da sind schwul. Und ich geh mit. Ich bin doch ihre Mutter!

ARTJOM (ärgerlich)
Sachen gibt’s. Na gut. Siebenhundert Rubel. Die Kinder sind umsonst.

Die Mutter der Zwillinge bezahlt, alle gehen glücklich und zufrieden rein.

ARTJOM

Also, eigentlich kann hier jeder rein. Oben sind die Umkleidekabinen, dann haben wir eine schicke Bar, diverse Saunas, Whirpool. Und ganz oben sind kleine Kabinen, wie so Zugabteile. Ist klar wofür, oder?!

Mischa kommt. Ein gut angezogener, gut aussehender Mann. Stumm reicht er Artjom einen Tausendrubelschein.

MISCHA

Grüß dich. Euer Parkplatz ist wieder voll. Ich hab mich in die zweite Reihe gestellt. Wenn was ist, hol mich, ok? Schwarzer Mercedes.

ARTJOM

Natürlich. Wie immer. Viel Spaß!

MISCHA

Danke. Stimmt so. Mischa geht rein.

Der junge Mann mit dem weißblonden Harr, das Großmütterchen, die Zwillinge und ihre Mutter, kurz, alle außer Mischa verlassen die Sauna. Sie halten sich an den Schultern und spielen „Zug“. Dazu singen sie ein russisches Lied über den blauen Zug auf den weiten Weg der sich wie ein Band zum Horizont schlängelt: „jeder hier, jeder hier, möchte nur glücklich sein“ und „warum muss der Tag denn bloß zu Ende gehen, ich wünschte mir er dauerte ein Jahr“

ARTJOM

Bei uns im Nachbardorf gabs mal einen Jungen, also ich kannte ihn nicht persönlich, aber alle kannten die Geschichte damals… Er hat seiner Mutter erzählt dass er schwul ist, und die hats dem Vater erzählt und der hat ihm dann den Kopf weggeschossen… Konnte es nicht ertragen… Das war natürlich Scheiße! Aber wie konnte er nur so dämlich sein und das erzählen? Ich meine, man muss doch wissen wo man lebt. oder? Ich meine, mir war schon ganz früh alles klar. Mit zwölf oder dreizehn. Aber warum sollte ich es jemanden erzählen? Und schon gar nicht meiner Mutter. Die weiß bis heute nichts. Ich persönlich hatte damit keine Probleme, ich war auch nicht erschrocken oder geschockt, oder so, als ich es begriffen habe. Warum auch? Ich bin halt so, was soll ich da machen? Ich würde damit einfach nur nicht hausieren gehen! Geht doch niemanden was an… Klar, das war nicht leicht, dieses so tun als ob… Ich hatte damals eine Freundin, also wir hatten natürlich nichts laufen, aber alle haben gedacht, wir sind zusammen… wir hingen ständig zusammen, waren richtig befreundet… Sie wusste auch nichts, natürlich… Ihre Mutter war Russin, aber der Vater irgendwas asiatisches, Chinese oder Mongole oder so… Auf jeden Fall sah sie voll so aus… mit Schlitzaugen und allem was dazu gehört… Und wurde deswegen krass gedisst… Sie hatte es echt schwer, aber sie war taff… das habe ich bewundert… Vielleicht hat sie was geahnt, aber ich glaube sie war einfach froh, dass sie mit mir abhängen konnte… Klar, es war nicht leicht, ich war dauernd in jemanden verliebt… aber was soll man denn machen? Hingehen und meine Liebe gestehen? Zum totlachen… Vielleicht ist es woanders anders, aber bei uns nicht. Bei uns redet man am Besten nicht über solche Sachen. Bei uns wird dir für so was der Kopf weggeschossen.

LJUDMILLA IWANOWNA

Die Nachbarn fragen immer: Was macht er in Moskau? Was soll ich denn sagen? Ich kann doch nicht sagen, dass er Schauspieler werden will. Ich meine, auch das noch. Also sag ich immer– er studiert BWL.

3.

Sauna. Mischa, nur mit einem Handtuch um die Hüften da. Er ist gut gebaut, rechts und links an den Oberarmen zwei Tattoos. Wie Ringe die um den Bizeps herum gehen.

MISCHA

Ich habe Hitze schon als Kind gehasst. Aber was ein echter Kerl ist, der sitzt ganz oben in der Sauna, auf der obersten Bank. Sonst bist du kein echter Mann.

Mischa Vater kommt rein, auch nur mit einem Handtuch bekleidet, aber mit Sauna Hut und Reisigbesen. Er setzt sich auf die oberste Bank.

MISCHAS VATER

Junge! Los jetzt! Bist du ein Mann, oder was?

MISCHA (leise)

Oder was…

MISCHAS VATER

Was? Los jetzt! Hoch mit dir!

Mischa klettert auf die oberste Bank. Streckt sich aus. Der Vater drischt mit dem Reisigbesen auf ihn ein.

MISCHA (schreit)
Aua! Aua! Das tut weh!

MISCHAS VATER

Ach was! Halt durch! Indianer kennen keinen Schmerz! Und Russen schon gar nicht!

MISCHA (weint)

Aua! Aua!

Mischas Vater schlägt immer stärker. Mischa schreit und jammert und weint, aber das stachelt den Vater umso mehr an. Er will ihn beschützen. Er liebt ihn. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Ein Russe gehört in die größte Hitze, auf die oberste Bank. Schließlich hört Mischas Vater auf, auf Mischa einzuschlagen und verlässt die Sauna. Mischa setzt sich auf. Es sind keine Narben zu sehen.

Artjom kommt rein, auch nur mit einem Handtuch bekleidet. Er sieht gut aus. Er bleibt unten stehen. Mischa betrachtet ihn von der obersten Bank aus.

MISCHA

Was stehst du da? Komm hoch?

ARTJOM

Ne. Ist mir zu heiß.

Mischa betrachtet Artjom weiterhin.

MISCHA

Fitnessstudio?

ARTJOM

Ne, selber. Homework.

Jetzt betrachtet Artjom Mischa.

ARTJOM

Und selber?

MISCHA

Auch zu Hause. Von klein auf. Mein Vater war Sportlehrer.

ARTJOM

Glückspilz.

MISCHA

Ja… Los, komm hoch! Da unten friert man sich ja den Arsch ab.

Artjom setzt sich auf die oberste Bank zu Mischa.

ARTJOM

Geile Tattoos. Ich überlege mir auch welche machen zu lassen.

MISCHA

Weißt du denn schon was?

ARTJOM

Ne, noch nicht…

MISCHA

Überlegs dir. Ein Tattoo sollte Sinn machen, was bedeuten… und nicht einfach nur so.

ARTJOM

Und was bedeuten deine Ringe?

MISCHA

Das ist persönlich.

ARTJOM

Verstehe.

Pause.

ARTJOM

Mir ist es zu heiß. Ich hau ab.

Artjom geht raus. Mischa folgt ihm.

4.

LJUDMILLA IWANOWNA

Er war dauernd krank. Ich war so glücklich. Seine Krankheitsgeschichte war länger als „Krieg und Frieden“, keine Krankheit die er als Kind und auch später noch nicht gehabt hat, dazu noch chronische Bronchitis. Welche Mutter ist froh, wenn es ihrem Kind nicht gut geht? Ich war es irgendwann. Warum? Weil ihn seine angeschlagene Gesundheit vor der Armee bewahrt hat. Darum. Nicht auszudenken was die mit ihm dort gemacht hätten. Pause. Ich habe lange Zeit mir die Schuld gegeben. Ein Kind ohne Vater, kein männliches Vorbild – das ist nicht gut. Zuerst habe ich auch gedacht, er vermisst den Vater, deswegen immer diese… Schwärmereien. Zu unserem Zahnarzt ist er jede Woche freiwillig hin, ganz alleine. Welcher 14jährige geht freiwillig zum Zahnarzt? „Mama, ich muss lächeln wie ein Star!“ Ja, ich habe gedacht, er vermisst einen Vater… naja… man sucht ja immer eine Erklärung…

5.

Ein sonniger Sommermorgen.. Artjom liegt auf dem Bett und schaut auf You-Tube ein Video von Occupy Pedophilia an, klickt dann weg und klickt auf Voice of Russia. Singt mit.

Mischa liegt mit Lena im Bett. Sie steht auf, küsst ihn und geht duschen. Sie hatten gerade guten Sex. Mischa nimmt sein Handy.

MISCHA (sms)

Hey! Wie geht’s?

ARTJOM (sms)

Gut! Und selber? Was machst du?

MISCHA (sms)

Nichts. Und du?

ARTJOM (sms)
Grad aufgestanden! 😉

MISCHA (sms)
Willst du immer noch ein Tattoo?

ARTJOM (sms)

Ja. Wieso?

MISCHA (sms)

Ich kenn da einen guten Meister. Ich kann dich heute Abend abholen und wir fahren hin… wenn du willst.

ARTJOM (sms)

Echt jetzt?

MISCHA (sms)
Ja. Kannst ja schauen, ob dir da was gefällt!

ARTJOM (sms)

Geil! ;-)))

MISCHA (sms)
Übrigens, meine Ringe sind Buchstaben. O. Für Olga und Oleg. Mein Vater und meine Mutter…

ARTJOM (sms)

Verstehe…

Atjom springt auf, zieht das Bett ab, holt neue Bettwäsche, riecht dran, überzeugt sich davon, dass es frisch genug ist. Bezieht das Bett neu. Holt Wasser und Waschlappen. Putzt das Fenster. Singt lautstark zu „Voice of Russia“ Hört dann auf, macht die Musik aus. Nimmt das Telefon. Wählt.

ARTJOM

Mama! Hallo! Ich ruf nur kurz an um dich nach deinem Rezept für dein Hähnchen zu fragen… Wie, welches Hähnchen? Dein Superhähnchen, was du immer machst. Mit der scharfen Sauce. Genau. Ja. Natürlich geht’s mir gut… Einfach so. Ich koche, wer denn sonst? Ja, dann ist es eben zum ersten mal, ist doch nichts dabei. Mama! Es ist nichts passiert, alles in Ordnung. Ehrenwort. Mein Gott, ich werde doch mal ein Hähnchen machen können! Ja gut. Wann? Ja, ich ruf wieder an! Bis gleich!

Macht die Musik wieder an. Putzt weiter und singt.

6.

LENA

Ich habe Mischa kennengelernt, als ich die Wohnung seiner verstorbenen Eltern verkaufen sollte! Er ist mir gleich aufgefallen. Ein Mann wie ein Baum! Stark und schweigsam. Er hat mir so leid getan, dass ich sogar auf meine Provision verzichtet habe. Das ist ja auch schrecklich, mit einem Schlag beide Eltern beim Autounfall zu verlieren. Furchtbar. So hats angefangen. Und jetzt sind wir schon sieben Jahre zusammen. Er war einfach immer für mich da. Letztes Jahr ist mein Vater gestorben, ich habe monatelang nur geheult, ein anderer hätte schon längst was gesagt – aber nicht Mischa. Er war geduldig, hat mich getröstet. Und dieses Jahr ist unser Hund gestorben. Ein Unglück kommt wirklich selten alleine. Aber das hat uns nur stärker zusammen geschweißt!

Sauna. Ein nackter muskulöser Mann, Typ Bodybilder, geht in eine Kabine. Gefolgt von Mischa. Sie schließen die Tür.

MISCHA (stöhnt)

Autsch!

BODYBILDER

Halt aus! Indianer kennen keinen Schmerz!

MISCHA (lacht und stöhnt)

Aua!

LENA

Wir arbeiten beide, verdienen gut, machen Urlaub, gönnen uns was. Ja, ich weiß schon, dass wir Glück haben, dass es andere gibt, denen es nicht so gut geht… Aber ist es nicht überall so… auf der ganzen Welt… nicht nur bei uns… Ich meine, was soll man denn da machen… allen kann man nicht helfen… Man muss in erster Linie schauen, dass es einem selbst gut geht, dann kann man sich auch um andere kümmern… Es ist wie im Flugzeug – erst sich selber die Sauerstoffmaske überziehen, danach den anderen helfen… Letztens zum Beispiel war ich beim Bäcker und vor mir in der Schlange stand so ein ganz altes runzliges Mütterchen. Sie fragt, wie teuer das Brot ist. Und das? Und jenes? Die Verkäuferin sagt, wenn sie noch fünf Minuten wartet, gibt es auf jedes Brot Feierabendrabatt um 20%. Und dem alten Mütterchen ist das ganz peinlich alles, das merkt man. Sie lächelt und entschuldigt sich und geht weg. Denn selbst mit 20% Rabatt kann sie es sich nicht leisten, mit ihrer lausigen Rente. Ich kaufe ein Brot und renne hinter ihr her, und drücke es ihr in die Hand. Und sie wehrt sich natürlich und wir stehen beide auf der Straße und heulen Rotz und Wasser. Ich könnt schon wieder losheulen, wenn ich nur darüber rede… Das geht natürlich nicht, dass die Alten bei uns sich kein vernünftiges Brot leisten können… oder sogar betteln müssen — sieht man ja dauernd. Das geht so nicht. Aber es ist schon auch so, dass sich auch viel getan hat, dass grundsätzlich alles eher besser wird. Die Möglichkeiten sind da. Man muss sie nur ergreifen!

7.

ARTJOM

Nach der Schule bin ich immer nach Hause, im Netz surfen oder Radio gehört. Die coolen Moskauer Sender, FM oder so. Ich habe die Augen zugemacht und mir vorgestellt, wie es da aussieht, die Lichter, die Straßen, die Sterne auf den Türmen. Ich habe immer gedacht, wenn ich erst in Moskau bin, das wird so geil, die Leute da sind komplett anders, cool, offen – nicht so wie bei uns. Ich habe geübt so zu reden wie die Moderatoren, hab das richtig trainiert, diesen Slang. Damit ich, wenn ich erstmal da bin, sofort mitmischen kann. Ich wusste immer, da will ich hin. Auch so ein Stern werden. Und nicht alleine in der Provinz vorm Computer verrecken.

8.

LJUDMILLA IWANOWNA

Er wollte immer Geld haben. Hat immer alles gespart. Wir hatten ja nichts. Trotzdem habe ich ihm immer ein kleines Taschengeld gegeben. Für gute Zensuren hat er immer was bekommen, und für schlechte habe ich es ihm wieder abgezogen. Man muss sich alles selber verdienen. Umsonst gibt es nichts auf der Welt. Das hat er schnell begriffen. Und dass man für alles kämpfen muss – das hat er auch schnell gelernt. Schon als kleines Kind. Ich weiß noch einmal, da war er noch ganz klein haben ihn irgendwelche älteren Jungs verprügelt, wollten ihm das Geld abnehmen. Das hat er aber so fest festgehalten in seiner kleinen Faust, trotz der Prügel, das es zerrissen ist, in der Mitte einfach auseinander gerissen. Er kommt dann an, heulend, voll Schmodder, die Nase läuft und sagt „Mama, schau mal… jetzt können wir nur die Hälfte einkaufen… “ (lacht)

9.

Ein heißer Tag im August. Mischas Wohnung. Mischa und Artjom liegen im Ehebett von Mischa und Lena. Sie hatten Sex.

ARTJOM

Nächste Woche zieh ich ins Wohnheim. Was machen wir dann?

MISCHA

Nichts.

ARTJOM

Wie, nichts?

MISCHA (steht auf, holt aus seiner Hosentasche einen Schlüssel, schmeißt ihn Artjom zu)

ARTJOM

Was ist das?

MISCHA

Überraschung!

ARTJOM

Hast du eine Wohnung gekauft oder was?

MISCHA

Nicht gekauft. Gemietet.

ARTJOM

Fett! Wie teuer?

MISCHA

Ist doch egal!

ARTJOM

Coole Scheiße!

MISCHA

Fett! Coole Scheiße! Wie redest du eigentlich?

ARTJOM

Wieso? Alle reden so.

MISCHA

Na gut! Komm, auf mit dir! Wir gehen schwimmen!

ARTJOM

Ne! Ist doch super hier.

MISCHA

Komm… Du weißt doch…

ARTJOM

Ja, ja… ich weiß… Aber sie ist doch noch bis morgen weg…

MISCHA

Trotzdem! Komm, lass uns zum Fluß…

ARTJOM

Keine Lust!

MISCHA

Ach komm… sei nicht sauer…

ARTJOM

Bin ich nicht… Ich habe keine Badehose dabei…

MISCHA

Dann fahren wir bei dir vorbei und holen eine… Komm.

ARTJOM

Nein… Ich hab kein Bock denen zu begegnen… Die glotzen mich an, als wäre ich ein Aussätziger… ich bin froh, wenn ich da weg bin… außerdem hab ich keine Badehose…

MISCHA

Dann nimm eine von meinen.

ARTJOM

Nein.

MISCHA

Was ist denn mit dir los?

ARTJOM

Nichts ist mit mir los… Ich habe nicht mal eine eigene Badehose, das ist mit mir los… Ich habe nichts Eigenes…

MISCHA

Dann kaufen wir dir eine. Ist doch kein Problem…

ARTJOM

Ja, für dich ist nichts ein Problem! Wohnung mieten, Badehose kaufen… Aber ich komme mir vor wie der letzte Honk mit meinen selbstgestrickten Westen… Vor allem in deinen schicken Restaurants, wo du mich hinschleppst…

MISCHA
Honk“? Nie gehört. Na komm.

ARTJOM

Wohin?

MISCHA

Shoppen.

ARTJOM

Nein. Lass stecken, Mischa, echt jetzt… Was soll ich denn mit einer Badehose?

MISCHA

Verdirb uns jetzt nicht die Laune. Komm, wir kleiden dich ein… Von Kopf bis Fuß… „Dolce“ „Armani“… Was das Herz begehrt…

ARTJOM

„Dolce“ und „Armani“? In welchem Jahrhundert lebst du denn? Dann schon lieber einfach „Vetements“ oder „Gosha Rubchinskiy“.

MISCHA

„Vetements“ oder „Gosha Rubchinskiy“? Na du hast dich ja schnell assimiliert!

10.

LENA (lacht,weint)
Das ist so krass, Mädels… Das ist so krass… Ich meine, das ist doch schon krass genug wenn dich der eigene Mann betrügt… Aber wenn er dich mit ́nem Typ betrügt… das ist mehr als krass, das ist soooo kraaaass!!! Mädels! Echt! Ich meine, ich verstehe nichts mehr… Wo soll denn das noch hinführen? Was ist denn das für eine krasse Welt? Alle Friseure sind Arschficker, das stimmt, das hat schon mein Vater gesagt… Aber wisst ihr was wirklich krass ist – dass ich nichts geahnt habe… ich war so blöd… Am Anfang, als ich diese ganzen sms entdeckt habe, habe ich gedacht, er hat der Schlampe mit der er mich betrügt einfach irgendeinen Männernamen gegeben… als Tarnung sozusagen… Ich ruf an – ein Typ. Ich hab gedacht, ich habe mich verwählt, ruf noch mal an, wieder der Typ… wirklich irgendein Artjom… ich meine, er hätte ihn doch zumindest anders nennen können… so als Tarnung… Aber ich habe es immer noch nicht begriffen gehabt! Wie blöd kann man sein, Mädels, hä? Aber irgendwann, irgendwann habe ich es dann begriffen… Das ist so krass, Mädels… so krass… Eins war mir allerdings klar – das wars, verfickte Scheiße noch mal, das wars! Endgültig! Keine scheißverfickten Gespräche, keine Erklärungen, keine sonst was! Ich meine, wer bin ich denn? Mein Mann fickt mit einem anderen Mann, und ich! Ich meine, was soll das? Was soll das, das will mir nicht in den Kopf? Wie kann er mir das antun, verfickte Scheiße? Wer bin ich denn? Ne, nicht mit mir, hab ich gedacht. Lena, hab ich gedacht, reiß dich zusammen. Guck dich mal im Spiegel an! Du bist noch jung, du hast das ganze Leben noch vor dir! Du wirst einen viel besseren finden! Jammern bringt nichts. Ich hab dann meine beste Freundin angerufen und hab ihr alles erzählt. Sie ist auch aus allen Wolken gefallen. Ist sofort hergekommen. Wir haben dann seine ganzen Sachen in Müllsäcke gepackt – das war ihre Idee – und vor die Tür gestellt. Ich hab ihn dann angerufen, er soll seine Sachen abholen. Hat er dann auch gemacht. Ich wollte ihn nicht mal sehen. Das wars! Für mich bist du tot. Du existierst nicht mehr! So! Das wars, verfickte Scheiße! Das wars! Ich bin sogar froh, dass ich jetzt aus dieser Scheiße raus bin! Das ist so krass, Mädels… so krass!

11.

Artjom und Mischa sind auf einer Filmpremierenfeier. Der Film handelt von einem nicht schwulen Popsänger und seiner unglücklichen Liebe zu seiner wunderschönen Kollegin. Gespielt wird der nicht schwule Popsänger von einem berühmten russischen Popsänger, dem die Frauenherzen zufliegen. Er selbst ist nicht verheiratet. Und hat auch keine Freundin. Hat wohl noch nicht die richtige gefunden. Wie schade! Mischa und Artjom stehen rum, trinken Champagner. Ein kleiner dicklicher Mann mit wenig Haar und kleinen roten Mäuseaugen geht vorbei. Das ist Berühmter Fernsehproduzent. Er trägt einen grauen Anzug, ein rosa Hemd und eine blaue Fliege. Alles sehr teuer. Mischa nickt ihm zu.

ARTJOM

Fuck, das ist doch der Typ vom Sender. Kennst du ihn?

MISCHA

Ist einer von uns.

ARTJOM

Wie, einer von uns? Ist er auch…

MISCHA

Ich meine, er ist einer unserer Kunden.

ARTJOM

Du schneidest ihm die Haare?

MISCHA

Ja.

ARTJOM

Fuck! Er ist so der Hammer…

MISCHA

Er ist ein Idiot.

ARTJOM

Mischa! Miiiischaaaa?!

MISCHA

Was?

ARTJOM (singt den Jingle)
Er ist der Produzent von „Voice“!

MISCHA

Na und?

ARTJOM

Hallo?

MISCHA

Was willst du da eigentlich?

ARTJOM

Wie? Du hast doch selbst beim Karaoke gesagt, dass ich geil singe!

MISCHA

Geil singen alleine reicht nicht!

ARTJOM

Mischa… Bitte!

MISCHA

Mach doch erst mal deine Ausbildung fertig… Der Erfolg kommt dann schon von ganz alleine!

ARTJOM

Klar, von ganz alleine… Wo lebst du denn? Erfolg ist doch nicht Liebe. Für Erfolg muss man was tun…

MISCHA

Ach! Und für deine Ausbildung musst du nichts tun, oder was?

ARTJOM

Wozu?

MISCHA

Wie, wozu? Um…

ARTJOM (unterbricht ihn)
Um was? Sag doch gleich, arbeiten, heiraten, Kinder kriegen…

MISCHA

Was willst du eigentlich?

ARTJOM

Ich will… ich will gleich den ganzen Batzen!

MISCHA

Klar! Alle wollen immer gleich den ganzen Batzen, aber wirklich dafür arbeiten will keiner!

ARTJOM

Chill mal, Alter! Heutzutage musst du daran arbeiten, berühmt zu werden, dann kommt alles von alleine.

MISCHA

Träum weiter.

ARTJOM

Wenn du bei „Voice“ bist, dann hast du Tausende von Followern. Dann kannst du einen eigenen Blog machen! Und damit Geld verdienen. Je mehr Follower du hast, desto mehr verdienst du. Geile Klamotten umsonst, überall freier Eintritt… dann schlepp ich dich in schicke Restaurants. Weißt du, was so ein Blogger verdient? Wenn er richtig Erfolg hat? Hunderte von Tausend. Im Monat! Mischa, heutzutage läuft das anders. Glaub mir! Deswegen, Mischa, ehrlich jetzt – red mit dem Typen. Ob er was machen kann für mich, mir helfen! Du weißt doch wie das läuft…

MISCHA

Ihr wollt immer alles geschenkt haben. Auf dem silbernen Tablett.

ARTJOM

Come on! Mischa, bitte!

MISCHA

Also gut!

ARTJOM

Bittebittebitte!

MISCHA (lacht)
Ja, mach ich. Hab ich doch gesagt!

ARTJOM

Yes! Du bist der Beste!

Will ihn küssen. Micha weicht entsetzt zurück. Sie schauen sich um. Lachen.

12.

ARTJOM

Für alles im Leben muss man bezahlen und Glück gibt es nicht umsonst – das hat meine Mutter immer gesagt. Deswegen, wenn etwas richtig gut läuft, so wie jetzt, dann habe ich Angst, dass es aufhört, dass es zu Ende geht. Das ich das Glück nicht verdient habe, dass die dicke Rechnung noch kommt! Ich weiß auch nicht… ich fliege von der Schule, oder verliere meinen Job, oder es passiert was, ich meine die lauern ja dauernd vor der Sauna und versuchen was, diese Arschlöcher… Oder meine Mutter findest was raus… Oder mit Mischa ist was… Wie lernt man das, dem Glück zu vertrauen? Wie lernt man es, glücklich zu sein und es auszuhalten? Wahrscheinlich gar nicht. Zumindest nicht in diesem Land.

13.

Ein trüber Herbsttag. Regen. Dreck. Artjom und Mischa im Auto. Mischa fährt und Artjom macht Selfies von sich und Mischa. Er postet sie sofort auf Instagram.

MISCHA (verärgert)
Kannst du mal damit aufhören bitte!

ARTJOM

Chill die Basis!

MISCHA

Und red nicht so!

ARTJOM

Ich kann posten was ich will. Und wenn jemanden was nicht passt, ist es nicht mein Problem… Du musst mal dein Auto waschen. Die Fenster sind total dreckig.

MISCHA

Hör einfach auf Fotos von uns beiden zu posten!

ARTJOM

Warum? Ich habe damit keine Probleme. Im Gegensatz zu dir.

MISCHA

Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Mein Privatleben ist einfach mein Privatleben, das geht niemanden etwas an.

ARTJOM

Du hast einfach Schiss! Du willst zwar mit mir zusammen sein, aber keiner darf es wissen. Ist ok. Du kannst mich ja aus deinem Leben heraushalten, aber in meinem Leben kann ich machen was ich will…

MISCHA

Scheiße nochmal! Hast du vergessen, in welchem Land wir leben oder was? Außerdem… Sie muss das doch nicht alles mitkriegen, auf Instagram oder facebook oder sonstwo… Sie hat es schwer genug…

ARTJOM

Ach, darum geht’s… Du hast Angst dass sie sauer wird, und ich muss drunter leiden…

MISCHA

Was redest du da für einen Schwachsinn?

ARTJOM

Ist doch wahr! Dir ist es wichtiger, was sie denkt, als wie es mir geht…

MISCHA

Kannst du auch mal an jemand anderen denken, als nur an dich? Hör einfach mit diesem Scheiß auf. Hör auf mich zu fotografieren, hör auf irgendwelche bescheuerten Selfies hochzuladen, hör einfach mit diesem Kinderkram auf… Verstanden?!

ARTJOM

Ich kann machen was ich will!

MISCHA

Hast du mich verstanden, will ich wissen!

ARTJOM

Ich habe nichts zu verheimlichen! Ich bin wie ich bin!

MISCHA

Ach wirklich?! (wendet das Auto) Gut!

ARTJOM

Was machst du?

MISCHA

Wir fahren jetzt zu dir nach Hause. Aufs Dorf. Dann kann ich endlich deine Mutter kennenlernen. Wenn wir durchfahren, sind wir morgen Nachmittag da.

ARTJOM

Das ist doch was ganz anderes!

MISCHA

Was ist denn daran anders? Dass deine Mutter nicht auf facebook ist?

ARTJOM

Komm, hör auf… Dreh um.
Mischa wendet stumm das Auto um. Sie fahren weiter.

14.

MISCHA

Ich habe damals auf ein Wunder gehofft. Das war unsere erste Verabredung. Wir waren schick essen, und sind danach durch die Straßen gelaufen. Es war kurz vor Weihnachten, es hat geschneit, ganz Moskau war weiß, wie im Märchen. So eine zauberhafte Stimmung, wo alles möglich scheint. Vielleicht ja doch? Vielleicht ein Wunder? Und ich bin geheilt. Dann sind wir stehen geblieben, haben uns angeschaut, dieser Moment kurz vorher… wenn man schon weiß, was passiert… und dann haben wir uns geküsst… und es ist kein Wunder geschehen… Ja… So hats angefangen… Wir haben Silvester miteinander verbracht, haben uns immer öfters gesehen, nach der Arbeit. Haben beim Chinesen was zu essen geholt… „Fisch oder Fleisch?“ — und haben uns irgendwelche Filme bei mir angeschaut. Fisch oder Fleisch… Wir hatten einfach viel Spaß miteinander, immer… Ich wollte sie nicht belügen, aber was hätte ich denn machen sollen… Und jetzt? Wie soll es denn weitergehen? Mit Artjom? Wir passen doch noch nicht mal wirklich zusammen, um ehrlich zu sein… Was haben wir denn für eine Zukunft? Zusammen alt werden? Zwei alternde Schwuchteln, die versuchen ein normales Leben zu leben… das ist doch lächerlich… Und das, wenn ich Glück habe… wenn ich Pech habe… verlässt er mich schon früher… Wir werden nie richtig zusammen sein können, heiraten, Kinder kriegen…, höchste der Gefühle wird ein Hund sein, den wir uns anschaffen, und um den wir ein Riesentheater machen werden. Ich geh morgens mit dem Hund Gassi, er abends, und eigentlich haben wir ja nichts Schlimmes gemacht, aber man schämt sich trotzdem. das bloß nicht den Nachbarn begegnen. Weil sie wissen, dass wir keine Brüder sind. Und Immer. Sauna, Bar, Club – überall einsame ältere Männer in der Hoffnung, dass es heute mal klappt! Das ist alles so widerlich. Wie soll ich denn so leben? Mit Lena, da war alles klar. Ein junges glückliches Paar… Mit Artjom, mit ihm bin ich anders… Mit ihm bin ich wirklich glücklich… „Fisch oder Fleisch“? Wofür ich mich auch immer entscheide – ich werde immer verlieren… Das ist der Tod. Einen Teil von mir muss ich töten. Immer. In jedem Fall… Die Wahrheit kann man nicht leben, und an der Lüge zerbricht man… Und wenn ich mir diese alten ekligen Schwuchteln ansehe, die sich in ihren glänzenden Anzügen an ihren Boyfriends reiben um sich ein bisschen Liebe zu kaufen, dann könnte ich kotzen und heulen zugleich… Will ich so ein Leben? Und was ist die Alternative? Alleine bleiben? Wie die meisten… sie bleiben alleine, einsam… Will ich das? Nachts einsam im Bett liegen, und nicht mal auf Klo gehen können, weil dazu muss man aufstehen und dann wieder ins leere und kalte Bett zu kriechen… das ist unerträglich…

15.

LJUDMILLA IWANOWNA

Das Dach leckt, überall schimmelt es, alles fällt auseinander. Ich habe ihn gebeten, „Komm, hilf mir“. Er hat gesagt er kommt. Dann hat er angerufen, „Mama, ich kann nicht, ich bin in der Vorrunde zu ‚Voice’. Hurra!“ Ich freue mich natürlich für ihn, aber… Hier fällt das Haus übern Kopf zusammen… Er hat versprochen, er kommt später. Das war vor Wochen. Immer ist was, mal dies mal das… Wie lange soll ich denn noch warten, hier regnets den ganzen Tag… Er hat sich so verändert, er spricht sogar anders… Dieses Moskau tut ihm nicht gut. Hier wäre er früher oder später zur Vernunft gekommen… Wer bin ich denn? Alle haben normale Kinder, Enkel, Familien… und ich… was mach ich? Naja! (Pause) Ich habe mir sogar mal einen Porno mit hier… na mit denen angekuckt… Das ist doch ekelhaft.

16.

MISCHA

Ich hab gedacht, ich fahr mal bei der Arbeit vorbei. War zwar eigentlich nicht seine Schicht, aber wer weiß. Am Eingang war irgend so ein neuer, den ich nicht kannte. ich frag, ist Artjom da, und er sagt, ja, oben, und grinst so. Aha. Ich zahle und geh hoch. Nicht viel los, aber eine Kabine belegt. Ich höre seine Stimme. Und kapier nichts. Und denke mir, dann wart ich halt. Und warte und warte. Und höre und höre. (Pause) Und fange an zu heulen. Einfach so. Ich weiß gar nicht warum. Ich mein, ich bin ein erwachsener Mann. Was soll das? Das ist doch albern. Aber ich kann nicht aufhören und stehe da im Gang vor dieser geschlossenen Tür und heule. Ohne einen Laut vor mir zu geben. Ich kauere mich vor die Tür, neben dem Mülleimer, der voll ist mit gebrauchten Kondomen und es stinkt nach Sperma und kalter Asche und mein Gesicht ist ganz nass und mir ist alles egal.

Sauna. Aus der Kabine kommen Artjpom und Berühmter Fernsehproduzent, beide nur mit Handtüchern bekleidet. Mischa steht auf und geht auf Artjom los. Berühmter Fernsehproduzent läuft weg. Mischa will Artjom schlagen. Hält sich in letzter Sekunde zurück. Er nimmt den Mülleimer und kippt den Inhalt des Mülleimers über Artjom. Gebrauchte Kondome, benutzte Taschentücher, Zigarettenkippen purzeln raus.

17.

Nacht. Gay-Club „Apollon“. An der Bar steht Artjom und trinkt Wodka. Beißt in eine Zitronenscheibe. Bestellt noch einen. Trinkt. Die frische Zitronenscheibe fällt auf den Boden. Artjom hebt sie auf und beißt hinein. Bestellt noch einen. Neben ihn steht Ein Typ und stiert gierig.

ARTJOM

Was glotzt du? Kannst du dir eh nicht leisten. Hau ab.

Artjom dreht sich weg. Bestellt noch einen. Dreht sich wieder zurück. Der Typ steht und giert und schwitzt wie ein Schwein.

ARTJOM

Na du bist vielleicht ein Bär! Ein echter russischer Bär, was?!

DER TYP

I don ́t speak russian!

ARTJOM

Aber ich speak! He, wo kommst du her? Hollywood?

Artjom trinkt aus, anstatt in eine Zitronenscheibe zu beißen, geht er zu Irgendein Typ, hebt dessen Arm hoch und riecht an der Achsel. Dann zückt er sein Handy und zeigt ihm was. Irgendein Typ schluckt, und zahlt Artjoms Rechnung. Sie gehen.

18.

LJUDMILLA IWANOWNA

Ich kann nicht mehr schlafen. Falle todmüde ins Bett und wälze mich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere. Ich hab schon alles versucht, heiße Milch mit Honig, Baldriantropfen, Johanniskraut – nichts hilft. Ich wollte mir in der Apotheke ein Schlafmittel holen, bin hin, und sag, ich dreh blad durch, gebt mir was, und die – ohne Rezept dürfen wir nicht. Dürfen wir nicht. Dürfen wir nicht. Was wir alles nicht dürfen. Die haben dann gesagt, gehen Sie zum Arzt, Großmütterchen, und lassen sie es sich verschreiben. Großmütterchen… Wir altern vor der Zeit hier… Meine Mutter sah mit fünfzig aus wie siebzig und ich bin auch nicht besser… Obwohl, ich könnte noch , wenn ich wollte… Ich habe letztens einen kennengelernt, zuverlässig, nett, packt mit an… Ich hab gedacht, vielleicht wär der was… hab dann so gaaaanz unschuldig, so ganz von weit her das Thema angeschnitten… Der hat richtig Schaum vor dem Mund bekommen… „Erschießen sollte man diese Perversen, die Schwänze abschneiden, und in den Mund stopfen, diese Kinderficker gehören alle vergast“ naja und so weiter und so weiter… Tja, so sind sie… die netten und die nicht netten… (Pause) Ich bin dann zum Arzt, und er fragt „Sind sie gestresst? Was ist denn los?“ Was los ist? Was los ist? Was ist denn nicht los? Und nicht nur bei mir… bei allen… bei allen ist was los… Oder wird früher oder später los sein . Glauben Sie mir. Die wollen ja nicht nur Artjom loswerden. Die wollen uns alle loswerden… die brauchen uns alle nicht, die Armen, die Kranken, die Rentner, die, die anders sind… Wenns nach ihnen gehen würde, sollen wir doch alle am liebsten verrecken… (Pause) Ich habe auch keine Freundinnen… Was soll ich denen denn sagen… ich mag nicht lügen, ich habe keine Kraft dafür… alle fragen mich immer: “Wieso ist er noch nicht verheiratet?“ „Wann gibt denn mal Enkelchen?“ Was soll ich denn da sagen? „Was macht er denn so?“ Was er macht? Ich habe keine Ahnung, was er macht. (Pause) Schlafmittel hat er mir nicht verschrieben. Der Doktor. Ich soll mich einfach mal entspannen. Dann werde ich auch wieder schlafen können. Das muss man sich mal vorstellen! (Pause) In Tschetschenien macht man richtig Jagd auf sie. Wie auf tollwütige Hunde. Aber darüber wird natürlich nicht berichtet im Fernsehen. Das wird einfach totgeschwiegen. Das große Schweigen. Und ich soll mich entspannen und ruhig schlafen. Stress? Deswegen? Ach was! Na dann gute Nacht. (Pause) Ich versteh nichts von Politik, ich hab mich nie drum gekümmert… die machen doch eh alles was sie wollen, das war schon immer so… aber wenn es Politik ist, vorzuschreiben, wer mit wem ins Bett gehen darf und wer nicht… ich weiß nicht… das ist doch nicht richtig… damit fängt es an, und dann… (Pause) Es liegt nicht an meinem Artjom, der ist in Ordnung… (Pause) Ich weiß nicht mehr was ich machen soll. Ich hab schon Schäfchen gezählt und Kühe und Gänse… nützt alles nichts… ich denke auch immer – was soll das? Wo kommt dieser ganze Haß her? Was haben die denen denn getan? Im Gegenteil – sollen sich die Kerle doch freuen, haben mehr Weiber für sich… Wirklich jetzt!

19.

Nachts in einem Club. Junge Frau und Artjom zusammen auf dem Klo in einer Kabine. Auf dem Klodeckel ein zusammengerollter Schein, eine EC-Karte und vier Lines weißes Pulver.

ARTJOM

Für mich nur ganz wenig! Ich bin noch.

JUNGE FRAU

Come on, scheiß dich nicht ein! Ist doch geil!

Jeder zieht eine Line.

ARTJOM

Die werden noch angekrochen kommen, aber hundert pro. Diese Scheißschule mit ihrem Scheißgetue mit diesen Scheiß Möchtegernidioten… Ist mir doch egal! Sollen die mich doch rausschmeißen… ich bin bei „Voice“ dabei, verstehst du… wie geil ist das…

JUNGE FRAU

Echt jetzt?

ARTJOM

Voll! Ehrenwort!

JUNGE FRAU

Wow! Wie geil ist das denn? Kannst du singen oder was?

ARTJOM

Oder was! Klar kann ich.

JUNGE FRAU

Sing mal was!

ARTJOM

Hier im Scheißhaus oder was?

JUNGE FRAU

Ja! Warum nicht! Für mich!

ARTJOM

Ne, kein Bock!

JUNGE FRAU

Oh Mann, scheiß dich nicht ein… Dann eben nicht.

Junge Frau gibt Artjom den zusammengerollten Geldschein.

JUNGE FRAU

Bedien dich…

ARTJOM

Ne, ich glaub mir reichts.

JUNGE FRAU

Jetzt scheiß dich nicht ein, ey…

Artjom zieht eine Line. Junge Frau auch.

JUNGE FRAU

Sag mal, ohne Scheiß… The Voice? Wie bist du denn da rangekommen…

ARTJOM

Ein Freund hat mir geholfen. Diese Scheißschule kann mich mal… Ich brauch die nicht… so siehts aus…

JUNGE FRAU

So einen Freund hätte ich auch gerne. Kann ich mir den mal ausleihen?!

ARTJOM

Zu spät! Der hat wieder heim zu Frauchen zurückgekehrt. Und tschüss!

Die Junge Frau schnappt sich Artjom und versucht ihn zu küssen. Er stößt sie weg.

ARTJOM

Spinnst du?

JUNGE FRAU

Was ist los? Gefalle ich dir nicht?

ARTJOM

Nein, ich..

JUNGE FRAU (haucht sich in die hohle Hand, riecht dran)

Hab ich Mundgeruch oder was?

ARTJOM

Nein…

JUNGE FRAU

Was ist denn los… Hast du keinen Bock oder was…

ARTJOM

Darum geht’s nicht…

JUNGE FRAU

Sondern? Bist du schwul oder was…?

ARTJOM

Ja! Und? Und? Ich stinke zumindest nicht aus dem Mund wie ein Pferdearsch!

Artjom stößt sie zur Seite, und geht raus. Geht schnell Richtung Ausgang. Junge Frau rennt ihm hinterher.

JUNGE FRAU

He! Das war doch nicht umsonst, der Spaß… Ich dachte, wir…

Betrunkener Typ hört interessiert zu.

JUNGE FRAU

He, dann schieb zumindest Kohle rüber, wenn wir schon nicht…

ARTJOM

Fick dich!

JUNGE FRAU

Fick dich selber! Blöder Arschficker! Schwule Sau! Arschloch!

Artjom verlässt den Club. Betrunkener Typ folgt ihm.

BETRUNKENER TYP

He, bleib doch mal stehen! Ich red mit dir! Wo willst du denn so schnell hin?

ARTJOM

Hau ab!

BETRUNKENER TYP

He, Schwuchtel! Ich red mit dir! So kannst du eine Dame nicht behandeln, verstanden!

ARTJOM

Hau ab! Lass mich in Ruhe! Lasst mich einfach alle in Ruhe!

Artjom geht weiter. Will einfach nur weg. Betrunkener Typ folgt ihm, im Gehen schaut er sich um und entdeckt eine rostige Eisenstange auf dem Boden. Er hebt sie auf und schlägt Artjom mit der Eisenstange über den Kopf. Artjom fällt zu Boden. Betrunkener Typ schmeißt die Stange weg, und holt mit dem Fuß aus. Der Fuß steckt in einem teuren, schweren Stiefel. Er schlägt auf Artjom ein, auf den Bauch, auf den Kopf. Bis Artjom sich nicht mehr rührt. Dann zieht er hoch und spuckt einen gelben Batzen Rotz auf Artjom.

BETRUNKENER TYP

Das wird dich lehren, Frauen schlecht zu behandeln. Blöde Schwuchtel.

Betrunkener Typ geht zurück. Artjom bleibt im Dreck liegen. Er liegt da wie zu Beginn des Stückes. Die Zukunftsvision ist Gegenwart geworden.

20.

Die Sauna in der Artjom arbeitet. Im Büro vom Saunabesitzer. Artjom ist übel zugerichtet. Das Gesicht sieht schrecklich aus, voller Blessuren, blauer Flecke, zugeschwollene Augen. Die vorderen drei Zähne fehlen.

ARTJOM

Ich muss meine Miete zahlen, essen und so. Bitte.

SAUNABESITZER

Du kennst mein Angebot…

ARTJOM

Ich zahls doch zurück… ich brauch nur etwas Zeit…

SAUNABESITZER

Hör mal, was stellst du dich so an? Du verdienst in einem Monat so viel, dass du dir neue Zähne leisten kannst, deine Miete zahlen und sonst alles was… . Weißt du, dass man in Thailand den Nutten extra die vorderen Zähne raushaut, damit es nicht schabt. Und bei dir ist alles Gottgegeben sozusagen! (lacht)

ARTJOM

Gibt es keine andere Möglichkeit?

SAUNABESITZER

Was denn? Hast du dich mal im Spiegel angeschaut in letzter Zeit? Mit so einer Fresse lasse ich dich nicht auf die Kundschaft los… Die rennen uns doch alle davon… Hör mal, wenn du nicht willst, dann nicht… dann hau ab… Du solltest mir überhaupt dankbar sein, dass ich dir überhaupt helfen will…

ARTJOM

Danke.

SAUNABESITZER

Na also…

Artjom verlässt das Büro, geht in die Mitarbeitergarderobe, zieht sich aus. Schlingt ein Handtuch um die Hüften und geht hoch in den dritten Stock. Geht in die letzte Kabine. Diese ist fensterlos, eng und stickig. Eine kahle Glühbirne spendet fahles Licht. Überall gebrauchte Taschentücher. Ungefähr in Hüfthöhe ist eine kleine runde Öffnung in der Wand. Artjom schließt ab, nimmt das Handtuch ab, rollte es zusammen und legt es auf den Boden. Er kniet auf das Handtuch, so dass sein Mund genau in Höhe der kleinen runden Öffnung ist.

21.

ARTJOM

Ich bin wie eine leere Klopapierrolle, die man ins Klo geworfen hat und die sich langsam auflöst. Ich löse mich langsam auf. Und alle stehen dabei und schauen zu. Jemand hat mich ins Klo geschmissen, eine neue Rolle angebrochen und sich zum scheißen hingesetzt. Und die warme Scheiße plumpst auf mich und zieht mich in die Tiefe. Und ich, die leere Klopapierrolle, treibe in der Schüssel, und sehe das Arschloch desjenigen der da über mir sitzt, und aus diesem Arschloch drückt sich langsam, wie Zahnpasta aus der Tube, die Scheiße raus. Die Scheiße plumpst auf mich und zieht mich mit in die Tiefe. Ich versinke in Scheiße und Pisse, und löse mich in dieser warmen Masse noch mehr auf. Dann wischt sich der Mensch mit frischem Klopapier den Arsch ab, steht auf und guckt ins Klo – hat sich die Klopapierrolle aufgelöst oder nicht? Nachdem er festgestellt hat, dass die Produktwerbung nicht gelogen hat, drückt er auf den Knopf und spült mich runter. Und das wars! Dann ist alles wieder sauber. Alles ist gut. Und die Scheiße rast hinunter, wie auf einer Achterbahn, mit anderen Scheißhaufen. Wohin? Wo geht es alles hin? Es schwimmt, es schwimmt unter dem weihnachtlichen Moskau. Und dann? Wohin dann? Millionen von Arschlöchern drücken gleichzeitig Scheiße aus sich raus, und trotzdem ist oben alles sauber und wohlriechend. Aber unten sind kilometerlange Rohre, durch die Tonnen von Scheiße fließen. Unter der eigentlichen Stadt ist eine andere, geheimnisvolle Stadt aus Rohren, in der Scheiße mit unglaublicher Geschwindigkeit von einem Punkt zum anderen befördert wird. Eine unsichtbare Stadt. Keiner fragt sich: „Wo ist mein Scheißhaufen?“ Aus den Augen, aus dem Sinn. Wir sind alle so verschieden, aber unsere Scheiße ist gleich. Ob in Wurstform oder als Klumpen. Scheiße macht keinen Unterschied. Sie schwimmt friedlich durch die Rohre zum großen Scheißsee. Zusammen. Es spielt für einen Scheißhaufen keine Rolle, wer der andere Scheißhaufen ist. Man verschmilzt mit anderen Scheißhaufen zusammen zu einer Masse. Und schwimmt gemeinsam weiter. Menschen können so etwas nicht. Für sie spielt es eine Rolle, wer du bist, was du bist. Scheiße ist es egal. Also ist ein Scheißhaufen besser als ein Mensch. Man sagt doch oft: „Er ist Scheiße!“ Das stimmt nicht. Wäre er Scheiße, wäre ihm alles recht. Aber er ist ein Mensch. Moskau ist so groß. So viele Menschen. Aber scheißen tun sie alle gleich. Egal, ob du im teuren Restaurant gegessen hast, oder am Würstchenstand. Es gibt keine gute Scheiße oder böse Scheiße. Die Scheiße von guten Menschen stinkt genauso, wie die von bösen. Scheiße ist demokratisch.

22.

Artjom kommt aus der Haustür. Er trägt eine volle Mülltüte. Er biegt um die Ecke, dorthin, wo die Müllcontainer stehen. Auf der anderen Straßenseite blinkt über den Eingang eines Geschäftes die Leuchtschrift „Möbel“. Er geht zu den Mülltonnen und schmeißt die Mülltüte hinein. Neben den Mülltonnen hat jemand einen alten Sessel abgeladen. Darauf lag bis gerade eben eine Katze, aber sie hat sich erschreckt und ist abgehauen. Mehrere graue Tauben picken irgendwas vom Boden auf. Artjom geht vorsichtig die Straße lang. Nicht nur weil es schneit und glatt ist, und überall vereiste dreckige Pfützen sind. Sondern weil er vorsichtig geht. Ihm kommen zwei Frauen entgegen, eine sitzt im Rollstuhl. Sie ist sehr alt. Die andere, jüngere, schiebt den Rollstuhl. Artjom fällt auf, dass sie schmutzige Fingernägel hat. Beide sind sie grau und unförmig angezogen, mehrere Schichten Kleidung gegen die Kälte. Die Beine der alten Frau im Rollstuhl sind in eine alte Decke gewickelt. Ihr Gesicht ist sehr bleich und sieht krank aus. Die beiden Frauen schweigen. Sie fahren einfach langsam und stumm die Straße lang. Die eine sitzt, die andere schiebt. Artjom geht weiter, biegt in einen Hof ein und überquert einen kleinen Kinderspielplatz. Das Tor am anderen Ende des Spielplatzes ist zu. Artjom holt Zigaretten aus der Jackentasche und zündet sich eine an. Er setzt sich auf die Kinderschaukel. Es ist nicht wirklich eine Schaukel, sondern ein großer Autoreifen, wie vom LW, der an Ketten hängt. Artjom schaukelt und raucht, hebt den Kopf und pustet den Rauch in den Himmel. Der Himmel ist grau. Überall Leitungen. Auf ihnen sitzen riesige schwarze Krähen. Man hört nur ihr Geschrei und den Lärm des Verkehrs hinter dem Haus. Der immerwährende Verkehrslärm vermischt sich mit dem Geschrei der Krähen zu einer Kakophonie, bis man das eine nicht vom anderen unterscheiden kann. Auf der Bank gegenüber der Schaukel sitzen die Zwillinge und die Mutter der Zwillinge, der junge Mann mit dem weißblondem Haar geht mit seinem Pincher spazieren und als Artjom den Blick hebt, sieht er, dass am Fenster einer Wohnung im zweiten Stock das Großmütterchen steht und Artjom beobachtet. Artjom raucht zu Ende, schmeißt die Zigarette weg und verlässt den Kinderspielplatz. Die Stadt scheint menschenleer zu sein. Nur Autos unterwegs. Der Schneepflug blinkt kurz und Artjom bleibt am Straßenrand stehen und wartet, bis er vorbei ist. Dann überquert er schnell die Fahrbahn. Seine Hände sind kalt und er reibt sie aneinander, um sie aufzuwärmen. Um schneller zur U-Bahn zu kommen, nimmt er die Abkürzung über das Krankenhausgelände. Dort sind mehr Menschen unterwegs. Alle eilen irgendwohin. Alle wollen jemanden besuchen. Ein Vater mit seinem kleinen Sohn hat Blumen und Kuchen dabei. Ein alter Mann schleppt sich, auf seinen Stock gestützt, ganz langsam, aber stetig vorwärts. Am Eingang stehen zwei Frauen. Eine scheint die Patientin zu sein, sie trägt einen Bademantel über dem Pyjama. Die andere hat ein schwarzes Kleid an. Vielleicht eine Freundin, die zu Besuch gekommen ist. Sie stehen zwischen Hunderten von Zigarettenkippen. Das ist der Raucherplatz. Die vier Gebäude des Krankenhauskomplexes sind alle grau. Hellgrau, Grau, Dunkelgrau und das vierte Gebäude ist einfach sehr schmutzig und von einem Gerüst eingezäunt.

Artjom geht weiter, verlässt das Krankenhausgelände. Reibt wieder seine Hände, um sie aufzuwärmen. Vom Dach tropft es. Er geht zur Kreuzung. Vor ihm auf der Straße weht ein blauer chirurgischer Überschuh aus Plastik. Der Wind spielt damit, wirbelt ihn hin und her. Er ist schon ganz schmutzig und zerrissen. Fliegt aber immer weiter. Artjom bleibt an der Ampel stehen, aber der blaue Überschuh fliegt weiter, über die Strasse. Artjom schaut ihm dabei zu. Schließlich wird der blaue chirurgische Überschuh von einem Auto erfasst und verschwindet unter den Rädern.

Je näher man zur U-Bahn kommt, desto mehr Menschen sieht man. Artjom geht an einen Haushaltswarenladen vorbei, bleibt stehen. Im Schaufenster ist ein Kühlschrank der Marke Liebherr ausgestellt. Darauf ein Zettel: SALE. Artjom geht weiter, bleibt an der Ecke stehen und zündet sich eine Zigarette an. Er schaut sich um. Die Gesichter der Menschen sind grau und stumpf. Sie sind alle gleich angezogen. Grau oder schwarz. Keine anderen Farben ringsherum. Ein Mann schnäuzt sich laut direkt neben Artjom und lässt sein Papiertaschentuch fallen. Artjom weicht ein bisschen zurück. Zündet sich noch eine Zigarette an. Plötzlich ein oranger Fleck inmitten des Grau. Artjom hebt die Augen und sieht eine neonorange Reklametafel. Darauf ein Foto von einem Schinken. „Billig und gut! Nur bei Dixi! Kommen Sie rein!“ Ein Stück die Straße runter noch ein oranger Fleck. Das ist der Kasten für das Notruftelefon. Er ist so schmutzig, dass man das orange fast nicht mehr sieht. Auf dem Kasten steht auf englisch: SOS. Artjom macht seine Zigarette aus und geht wieder zurück. Geht in einen Supermarkt. Kauft irgendwas. Kommt mit einer Einkaufstüte raus. Geht an einem langen grauen alten Zaun lang. Eine Frau in einer schwarzen Daunenjacke fährt im Kinderwagen ein Baby im blauen Overall spazieren.

Artjom ist wieder bei den Mülltonnen angelangt. Er holt aus seiner Tüte Katzenfutter raus, reißt das Paket auf und streut das Futter auf den alten abgestellten Sessel. Sofort kommt die Katze angelaufen und fängt an zu fressen. Ein Müllmann in oranger Arbeitskleidung taucht auf. Seine Mütze ist zerrissen. Er lächelt Artjom an mit seinen falschen Goldzähnen an. Artjom geht nach Hause und stellt verwundert fest, dass seine Hände nicht mehr kalt sind.

23.

Mischas und Lenas Wohnung. Artjom telefoniert in der Küche.

ARTJOM

Ja, ich war heute morgen da, und habe die Anzahlung gemacht. Für die Limousine, genau… Ja, wir wollen jetzt doch die große. Ja, sonst bleibt alles wie besprochen. Gut. (legt auf)

Lena kommt in die Küche. Sie ist hochschwanger.

LENA

Wegen der Limousine? Alles ok?

ARTJOM

Ja, alles ok. Leg dich wieder hin. Schlaf noch ne Runde.

LENA

Ich kann nicht. Und was ist mit dir? Musst du nicht mal zur Arbeit? Du bist schon zwei Tage hier.

ARTJOM

Nein, kein Problem.

Es klingelt an der Tür. Lena geht raus in den Flur. Artjom nimmt von der Anrichte ein gerahmtes, schwarz-weißes Foto von Mischa und betrachtet es. Lässt es aus Versehen fallen. Das Glas zersplittert. Er fängt an, die Scherben aufzusammeln. Lena kommt wieder rein.

ARTJOM

Tut mir leid. Ich räum das auf.

LENA

Lass. Ich mach schon.

Lena hilft ihm unbeholfen. Sie schneidet sich an einer Scherbe.

ARTJOM

Pass auf!

Lena saugt an der Wunde. Fängt an zu weinen. Artjom umarmt sie.

ARTJOM

Psst.. Psst.. Ist ja gut. Alles wird gut…

24.

Ein sonniger Tag. Lena verlässt das Krankenhaus mit dem Baby auf dem Arm. Vor dem Krankenhaus wartet Artjom mit einem Strauß Blumen. Überreicht Lena die Blumen, und nimmt das Baby. Es ist ein Junge. Er sieht genau so aus wie Mischa! Artjom hilft Lena in das wartende Taxi, überreicht ihr das Kind und setzt sich vorne neben dem Fahrer. Zusammen fahren sie in eine strahlende Zukunft.

25.

LENA

Er saß da, alleine… Ich hab ihn ja oft genug gesehen, im facebook und so… Deshalb habe ich ihn auch gleich erkannt damals im Krankenhaus… Aber ich wollte nicht mit ihm reden, nicht weil ich sauer war oder so, sondern einfach… was soll man da reden… ich war ja wie von Sinnen… unter Schock… Der Arzt hat mir später erzählt, dass er der erste war, der Blut gespendet hat. Jeden Tag. Und andere mobilisiert hat, über facebook und twitter und was weiß ich. Es waren wirklich viele Leute da, die Blut gespendet haben… naja… hat nichts genützt… Und er saß immer da, ins Zimmer hat er ja nicht gedurft, er war ja kein Verwandter. Er war die ganze Zeit da… Tag und nacht… Ist ja auch so eine Art Treue, denke ich mir, bei denen… (Pause) Und dann… es hat sich einfach so ergeben… wahrscheinlich weil er immer da war… nach Mischas Autounfall hab ich gedacht, ich dreh durch… Krankenhaus, warten, hoffen… und dann später die Beerdigung, ich hochschwanger, der Laden muss weiter laufen und und und… Er hat mir geholfen, ohne ihn hätte ichs nicht geschafft, das ist so… Er macht es auch wirklich super, alles eigentlich… der Laden läuft, er ackert, als wärs sein eigener. Letztens hat er einen entlassen der schwarz gearbeitet hat, also in die eigen Tasche, das geht natürlich nicht, wenn das die Runde macht… Artjom hat das gut gemanagt, ich war ganz beeindruckt… Er ist in Ordnung… Und Wanja ist ganz vernarrt in ihn… die können stundenlang irgendwas spielen zusammen, quatschen da irgendwas, der Kleine hört so aufmerksam zu , als würde er was verstehen und antwortet dann ganz wichtig… so süß… Ich meine… er hat Mischa ja auch geliebt… irgendwie… er vermisst ihn auch… natürlich verbindet das… aber… ich mein, was soll ich denn machen? Ich hab einfach Angst! Ich hab nichts gegen ihn, wirklich nicht… aber ich muss doch an meinen Sohn denken… hab einfach Angst! Ich meine, was ist, wenn das doch ansteckend ist? Man weiß es ja nicht. Auf jeden Fall, ich hab ihn gebeten zu gehen… sicher ist sicher.

26.

LJUDMILLA IWANOWNA

Er war immer ein guter Schüler. In der neunten Klasse hats ein bisschen nachgelassen, aber nicht schlimm. Neunte Klasse. Ich weiß noch, ich hab zu ihm gesagt: Artjom, wenn du anfängst zu rauchen, dann schnorr nicht, bettel nicht rum, sammle keine Kippen auf – komm zu mir und sag klipp und klar, Mama, ich rauche – dann kaufe ich dir Zigaretten. Und er sagt – Mama, mach dir keine Sorgen. Ich rauche nicht. Ich hab schon wieder aufgehört!“ (lacht)

27.

Das Dorf in dem Artjom aufgewachsen ist. Ljudmilla Iwanownas Haus. Auf der Veranda sitzt das Großmütterchen und singt leise das Lied über den blauen Zug auf den weiten Weg der sich wie ein Band zum Horizont schlängelt: „jeder hier, jeder hier, möchte nur glücklich sein“ und „warum muss der Tag denn bloß zu Ende gehen, ich wünschte mir er dauerte ein Jahr“. Mischa ist auf dem Dach und repariert es. Artjom steht auf einer Leiter die am Dachfirst gelehnt ist und reicht Mischa die Werkzeuge. Auf dem Hof toben die Zwillinge, sie lachen laut und kreischen.

MISCHA (zu Artjom)
Letzte Nacht hab ich wieder geträumt, dass ich so neben dir schwebe. Wir gehen durch Moskau, und du hältst mich fest wie einen Luftballon. Und dann bleiben wir an der Ampel stehen, und ich schwebe runter und du packst mich und schreist irgendwas…

Junger Mann mit weißblondem Haar kommt aus dem Haus.

JUNGER MANN MIT WEIßBLONDEM HAAR

Jungs! Kommt endlich. Alles wird kalt.

MISCHA

Gib mir mal den anderen Hammer.

Junger Mann mit weißblondem Haar setzt sich zu Großmütterchen und singt mit.

MISCHA

Ich versuche dich zu beruhigen, und sag, das alles in Ordnung ist, alles gut ist, aber du hörst mich nicht und schreist und schreist.

Die Mutter der Zwillinge kommt.
MUTTER DER ZWILLINGE (zu den Zwillingen. Zeigt auf Mischa und Artjom)

Da, nehmt euch ein Bespiel dran. So macht man das!

Die Zwillinge und die Mutter setzten sich ebenfalls auf die Veranda zu dem Großmütterchen und Junger Mann mit weißblondem Haar und singen leise mit.

MISCHA

Und irgendwann beruhigst du dich und hörst auf zu schreien. Aber du schaust mich an, als wäre ich ein Fremder. Als würden wir uns nicht kennen. Als hätten wir noch alles vor uns.

Um die Ecke herum, aus der Banja hinter dem Haus, kommen Zukünftiger Vater und Mischas Vater. Nur mit Handtüchern bekleidet. Sie setzen sich zu den anderen und singen leise mit. „jeder hier, jeder hier, möchte nur glücklich sein“. Von draußen, von der Straße kommt Betrunkener Typ

BETRUNKENER TYP

He, Männer, kann ich mir mal kurz die Leiter ausleihen?

Artjom steigt wortlos von der Leiter zu Mischa aufs Dach.

MISCHA

Pass auf!

BETRUNKENER TYP

Super! Danke!

Zufrieden strahlend verlässt er den Hof. Nacheinander kommen in den Hof: Bodybilder, Berühmter Fernsehproduzent, Der Typ, Irgendein Typ, Junge Frau, Saunabesitzer. Alle setzen sich auf die Veranda und singen leise. „warum muss der Tag den bloß zu Ende gehen, ich wünschte mir er dauerte ein Jahr“. Mischa und Artjom sitzen auf dem Dach. Aus dem Haus kommt Ljudmilla Iwanowna.

LJUDMILLA IWANOWNA

Alles ist fertig. Kommt.

ENDE

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